Bitcoin hat sich nach dem kurzzeitigen Absturz unter 80.000 US-Dollar zwar wieder Richtung 88.000 US-Dollar bewegt, doch die zentrale Frage bleibt ungelöst: War das ein echter Zyklusboden – oder nur ein technischer Reflex innerhalb eines übergeordneten Abwärtstrends? Die On-Chain-Analysten von Santiment haben die aktuelle Marktlage detailliert aufgedröselt – und ihre Antwort fällt deutlich nüchterner aus, als viele hoffen.
Warum das Wort „Bottom“ im Kryptomarkt fast nichts bedeutet
Santiment beginnt mit einer grundsätzlichen Kritik: Die Branche wirft Begriffe wie „Boden“, „Top“, „Bull Market“ oder „Bear Market“ vollkommen willkürlich durch die Gegend. Kaum jemand definiert Zeitrahmen, Kriterien oder strukturelle Bedingungen. Stattdessen werden diese Begriffe retrospektiv genutzt, um persönliche Narrative zu stützen.
Genau hier entsteht laut Santiment der größte Fehler vieler Anleger: Man sucht das, was man sehen will. Wenn der Markt leicht steigt, ruft die optimistische Seite sofort einen Boden aus; fällt er wieder, verkündet die pessimistische Seite den Beginn eines Bärenmarkts – ohne jede objektive Messlatte.
Diese Kritik ist wichtig, denn sie bildet die Grundlage der gesamten Analyse: Wer ohne klare Definition nach einem Boden sucht, läuft zwangsläufig in die Irre.
Die Stimmung ist gekippt – und paradoxerweise ist genau das kurzfristig bullisch
Trotz fundamentaler Schwäche erkennt Santiment ein klares Sentiment-Signal: Die Masse ist pessimistisch geworden. Social-Data zeigt eine deutliche Zunahme an Posts, die Bitcoin bereits in einem neuen Bärenmarkt verorten. Viele Nutzer sprechen offen davon, die Hoffnung verloren zu haben – ein Kontrast zu der Selbstsicherheit, die noch vor wenigen Wochen dominierte.
Historisch sind genau diese Phasen, in denen die Mehrheit „innerlich aufgibt“, der Nährboden für kurzfristige Gegenbewegungen. Santiment bringt es direkt auf den Punkt:
„Die steigende Zahl an ‚Bärenmarkt‘-Rufen ist ein gutes Zeichen. Große Umkehrpunkte entstehen, wenn Retail bereits kapituliert hat.“
Doch dieser positive Effekt ist rein taktischer Natur – und sagt nichts über den Zyklusboden aus.
Derivate schicken gemischte Signale – Short-Druck ist da, aber noch nicht extrem
Ein weiterer Baustein der Analyse sind die Funding Rates und das Verhalten der Derivate-Trader.
Die Märkte verzeichnen aktuell erhöhte Short-Aktivität, was theoretisch eine Basis für eine kleinere Aufwärtsbewegung bildet. Bei früheren Gelegenheiten führte eine massive Überladung des Marktes mit Shorts zu abrupten Erholungen, da Short-Positionen geschlossen werden mussten.
Diesmal ist die Situation allerdings weniger eindeutig. Die Short-Raten steigen, aber sie haben noch nicht jene Extremwerte erreicht, die typischerweise eine explosive short-induzierte Rally auslösen würden.
Santiment beschreibt es so: Der Markt ist skeptisch, aber noch nicht panisch. Damit bleibt eine kurzfristige Erholung möglich, aber ein Boden lässt sich daraus nicht ableiten.
MVRV zeigt Luft nach oben – aber keine strukturelle Umkehr
Auch die MVRV-Indikatoren sprechen eine klare Sprache. Sie zeigen, dass viele Anleger derzeit in Verlustpositionen sitzen. Wenn große Teile des Marktes im Minus stehen, verringert sich der Verkaufsdruck, da weniger Teilnehmer bereit sind, Verluste zu realisieren.
Für Santiment ist das ein Grund, warum Bitcoin sich durchaus wieder über die 90.000-Marke schieben könnte. Allerdings bleibt der MVRV ein kurzfristiger Indikator – und liefert keinerlei Beweis für einen übergeordneten Boden.
Das eigentliche Problem: Die Netzwerkaktivität bricht ein
Während Sentiment und kurzfristige Metriken auf eine Erholung hindeuten, spielt sich im Fundamentalen ein ernsterer Trend ab: Die Netzwerk-Usage sinkt deutlich.
Neue Adressen sind innerhalb eines Jahres von über 3,3 Millionen auf etwa 2,2 Millionen gefallen.
Aktive Adressen sind von knapp einer Million auf rund 730.000 zurückgegangen.
Das ist die Art von Datenpunkt, den man nicht sehen will, wenn man auf einen nachhaltigen Boden hofft.
Ein echter Zyklusboden geht fast immer mit einer Stabilisierung der Nutzung einher – oder sogar mit einem Anstieg, wie im Winter 2018 oder während des COVID-Crashs 2020.
Der aktuelle Rückgang deutet stattdessen auf nachlassendes Interesse und eine schwächer werdende ökonomische Aktivität im Netzwerk hin. Santiment stellt klar:
„Die Utility von Bitcoin fällt – und das ist zur Ausbildung eines Bodens das falsche Umfeld.“
Wale reduzieren Bestände – Retail kauft blind nach
Das wohl stärkste Anti-Boden-Signal betrifft die Struktur der Holder. Wallets im Bereich von 10 bis 10.000 BTC – also klassische Wale und große institutionelle Player – bauen ihre Bestände seit Wochen ab. Und das genau seit dem Bereich des Allzeithochs.
Währenddessen kaufen Kleinanleger aggressiv nach, obwohl der Trend eindeutig gegen sie läuft. Santiment formuliert es unmissverständlich:
„Das ist nicht die Struktur eines Bodens. Seit COVID waren die großen Wallets die zentralen Treiber jeder nachhaltigen Rallye.“
Wenn Wale Kapital abziehen und Retail auf Verdacht nachkauft, entsteht ein instabiles Marktgleichgewicht – und in der Regel kein Boden, sondern ein Abverkauf.
Kurzfristige Erholung wahrscheinlich – nachhaltiger Trendwechsel unwahrscheinlich
Santiment fasst die Lage am Schluss in zwei Zeithorizonten zusammen:
- Kurzfristig: Eine Erholung ist plausibel. Die Stimmung ist im Keller, die MVRV-Werte sind negativ und Shorts nehmen zu. Eine Rückkehr über 90.000 US-Dollar wäre alles andere als überraschend.
- Mittelfristig bis langfristig: Der Trend bleibt abwärtsgerichtet. Sinkende Wal-Bestände und sinkende Netzwerkaktivität sind klassische Merkmale eines noch laufenden Abwärtstrends.
Santiments finale Bewertung fällt entsprechend ernüchternd aus:
„So lange Utility sinkt und große Wallets verkaufen, zeigt die langfristige Richtung nach unten.“
Und trotzdem bleibt eine kryptotypische Fußnote: Die Märkte überraschen gern, und häufig genau dann, wenn die Mehrheit resigniert.